"Strapaziös und gefährlich" - die Signale der Saarbrücker Zeitung an Betroffene sexualisierter Gewalt

Stellungnahme des Frauenbüros Saarbrücken

PRÄAMBEL

Der Frauenanteil in den Parteien beträgt zwischen 17% (AfD) und 40% (Bündnis 90/Die Grünen)1. Im
Bundestag sind 31% der Mitglieder Frauen2. Im Landtag des Saarlandes liegt die Frauenquote bei
37,5% und damit unter dem Durchschnittswert der Länder3. Auf kommunaler Ebene liegt der
Frauenanteil der Volksvertreterinnen bei 27%4.

13% der Frauen in Deutschland haben Sexualdelikte erlebt, 25% Gewalt in der Beziehung.5 Nur 5%
aller Vergewaltigungen werden zur Anzeige gebracht.6 Das sind ca. 8000. Nur 13% der Verfahren
enden mit einem Schuldspruch, obwohl nur 3% der Anzeigen als Falschbeschuldigungen gewertet
werden können.7

„Die Presse achtet das Privatleben des Menschen und seine informationelle Selbstbestimmung (…) Bei
einer identifizierenden Berichterstattung muss das Informationsinteresse der Öffentlichkeit die
schutzwürdigen Interessen von Betroffenen überwiegen.(…) Bei Zeugen sind Namensnennung und
Fotoveröffentlichung in der Regel unzulässig.“8(Publizistische Grundsätze (Pressekodex) des deutschen
Presserats)

KRITIK

Eine Anklage und zwei Verteidigungen

Am 20. und 21. Juli sowie am 26. Juli 2021 hat die Saarbrücker Zeitung die Artikel „Spitzenkandidatin
[Nachname]: Anklage wegen Vergewaltigung von Grünen-Politikerin“ (Artikel 1) und „‘Es wird um
Glaubwürdigkeit gehen‘: Experte ordnet Strafanzeige wegen Vergewaltigung von Saarpolitikerin ein“
(Artikel 2) und „Man muss sich jeden Einzelfall anschauen“ (Artikel 3) veröffentlicht.

Damit hat die Redaktion zunächst die Meldung veröffentlicht, dass eine Stadträtin der Grünen
Strafanzeige wegen Vergewaltigung in zwei Fällen erstattet hat. Die Anzeige gegen den Ex-
Beziehungspartner wurde 2019 gestellt. Ein Tweet, in dem die Opferzeugin9 bekanntgibt, dass sie
ihren Vergewaltiger angezeigt hat, um zu heilen und dass sie sich für Gewaltbetroffene engagiert,
wurde im Sommer 2020 erstellt und gelöscht. Ob das Hauptverfahren überhaupt eröffnet wird, wird
im Artikel 1 als „unklar“ eingeschätzt. Der vollständige Name und politische Ämter der Opferzeugin
werden benannt, außerdem ein Portraitfoto und zusammenhangslos ihre Sexualität veröffentlicht.

Die Art der Berichterstattung rief heftige Kritik hervor. Gegen diese Kritik verwehrte sich die
Saarbrücker Zeitung mit den beiden Folgeartikeln.


Exkurs: Seit über 100 Jahren gegen Vergewaltigungsmythen

Die erste feministische Welle, die vor über 100 Jahren für das aktive und passive Wahlrecht von
Frauen eintrat, erstarkte aufgrund der gemeinsamen Erfahrung, dass Politik, Wirtschaft, Militär,
Medien und Kunst das männliche Weltbild repräsentierten. Das geschlechtsspezifische kollektive
Wissen von Frauen (das sie z.T. aufgrund struktureller Diskriminierung und z.T. durch die
Verwirklichung der gängigen Geschlechterrollenbilder hatten) und ihre geschlechtstypischen
Probleme fanden keine Repräsentation oder gar Lösung. Die Suffragetten forderten das Wahlrecht
für Frauen, um darüber politische Repräsentanz und Macht zu schaffen, die neben vielen anderen
Zielen10 eben auch sexualisierte Gewalt benennen, verfolgen und verringern sollte.

2006 wurde der Hashtag #metoo von der Menschenrechtsaktivistin Tarana Burke ins Leben berufen,
um damit das Schweigen der Gewaltbetroffenen in einen solidarischen, glaubwürdigen und
aktivistischen Chor zu verwandeln.

2017 ging der Hashtag viral als Ventil für Frauen und Mädchen, um über ihre eigenen Erfahrungen
mit Sexismus und sexualisierter Gewalt zu sprechen.
Die enorme weltweite Resonanz verstärkte die in Deutschland schon zuvor aufmerksamkeitsstarken
und aufrüttelnden Hashtags wie #Aufschrei (2013) oder #ichhabenichtangezeigt (2012). Die
Offenbarungen der Social Media User*innen mündeten in einer umfassenden Debatte über die
Diskrepanz zwischen Dunkelziffern und Verurteilungen, über den medialen und gesellschaftlichen
Umgang mit Betroffenen und über die kulturellen Muster und Mechanismen, die Täter schützen und
rape culture11 etablieren.

Auch angesichts der lebhaften (aus heutiger Sicht teils absurd kontroversen) Diskussionen und
letztendlich erfolgreichen politischen Willensbildungsprozesse zu den Gesetzesänderungen 1997
(Vergewaltigung in der Ehe) und 2016 („Nein heißt Nein“) ging das Frauenbüro Saarbrücken bisher
davon aus, dass alle seriösen Zeitungen ihrer Verantwortung für einen konstruktiven Diskurs um
sexualisierte Gewalt gerecht werden wollen und verstanden haben, dass es bei diesem
hochsensiblen Thema nie nur um die Personen im öffentlichen Interesse geht, sondern immer auch
um die Betroffenen sexualisierter Gewalt unter den Leser*innen.


Kein Gewinn für Niemanden – die Folgen der Artikelserie

Die Berichterstattung der Saarbrücker Zeitung in den letzten Tagen signalisiert allen Frauen und
Mädchen, die sexuelle Gewalt erfahren haben, dass sie dies besser nie zur Sprache bringen. Dass sie
weder in den sozialen Medien ein kämpferisches Statement formulieren, noch Anzeige erstatten
sollten, weil all dies gegen sie verwendet werden kann. Sie signalisiert allen Frauen und Mädchen,
dass sie sich nie politisch engagieren sollten, weil sie dann auf die schmerzhaftesten und privatesten
Details reduziert werden können, die ihnen gegen ihren Willen angetan wurden.

In Artikel 1 wird die Politikerin mit Namen und Foto und Auflistung ihrer Ämter durch suggestive
Wortwahl dafür kritisiert, die Strafanzeige „erst“ nach Beziehungsende gestellt zu haben. Der
Angeklagte wird wiederholt als „Betroffener“ bezeichnet. Seine Anonymität wird augenscheinlich
gewahrt, aber ausreichend identifizierende Informationen bekanntgegeben, um seinem beruflichen
und privaten Umfeld ausreichend viele Hinweise eine fast zweifelsfreie Identifikation zu ermöglichen.

Im Artikel 2 heißt es u.a.: „Wird [die Anklage] vom Landgericht zugelassen, dürfte das Verfahren die
Anklageführerin (…) mehr belasten und beschädigen als ihren mutmaßlichen Vergewaltiger“;
„womöglich würde ein Gutachten zu ihrer Glaubwürdigkeit notwendig.“; „Wie schnell in
Vergewaltigungs- und #metoo-Prozessen Persönlichkeitsrechte [der Opferzeugin (sic!)] unter die
Räder geraten, zeigten der Fall Kachelmann oder Wedel.“; „Ohne Zweifel belegen die Plagiatsaffären
im politischen Feld – jüngst der der Grünen Annalena Baerbock – wie unmittelbar Zustimmungs-
Quoten und Glaubwürdigkeits-Erschütterungen zusammenhängen.“; „Doch womöglich ist bei [der
Opferzeugin] noch etwas ganz anderes maßgeblich, eine politische Botschaft.“

In diesen beiden Artikeln erweckt die Saarbrücker Zeitung den Verdacht, dass in diesem Fall das
Stellen der Anzeige kritikwürdig, moralisch falsch und womöglich unberechtigt sei. Dabei bedient sie
zwei Klischees: Das der lügenden Politikerin und das der Falschbeschuldigungen in
Vergewaltigungsverfahren. Dem gegenüber stellt sie ein alternatives Interpretationsangebot, das
ebenfalls misogyne Feindbilder schürt: Das der alles überlagernden Emotionalität von Frauen und
ihre angebliche Unfähigkeit, zwischen persönlichem Erleben und politischer Verantwortung zu
trennen – was übrigens eins der wirksamstem Argumente war, um Frauen jahrzehntelang das
Wahlrecht zu verweigern.
Diese Berichterstattung führt dazu, dass das Image einer jungen Frau – ganz unabhängig davon, ob
sie dann überhaupt noch als Person des öffentlichen Interesses gelten kann – fremdbestimmt und
geschädigt wird. Selbst in dem Fall, dass das Gerichtsverfahren stattfindet und mit einem
Schuldspruch endet, wird sie die Angelegenheit nicht abschließen und heilen können, da sie aufgrund
der fahrlässigen und boulevardesken Berichterstattung der Saarbrücker Zeitung immer als „die
Vergewaltigte“ kontextualisiert (und ggf. sogar sexualisiert) werden wird.

In Artikel 3 zeigt die Saarbrücker Zeitung, dass sie einen Juristen gefunden hat, der ihr Vorgehen für
korrekt hält. Dass dafür offenbar Niemand sympathischeres gefunden wurde, als ein Anwalt, der AfD
und Erdogan vertrat und Zeitungen verklagte, die über die Verstrickung von NSU und
Verfassungsschutz berichten, hat bereits satirische Züge. Seine frauenfeindliche, explizit moralfreie
und klassistische Argumentation wollen wir nicht weiter verbreiten oder wiederholen.

Ein vom Frauenbüro zu Rate gezogener Jurist sieht die Angelegenheit mit Blick auf Art. 8 des
Pressekodex grundsätzlich anders als im Artikel 3 verbreitet: Auch Personen des öffentlichen Lebens
sind in ihrer Privat- und Intimsphäre nach der Judikatur von BVerfG wie Europäischem Gerichtshof für
Menschenrechte geschützt. Ein solcher Schutz umfasst insbesondere auch die Sexualität eines Menschen -
und erst recht eine solch massive Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung, wie sie in einer
Vergewaltigung liegt.
In diesem Fall ist es zudem entscheidend, ob zum Zeitpunkt der Veröffentlichung eine Einwilligung zur
Information der Öffentlichkeit durch die Opferzeugin vorlag. Die Löschung des Tweets und die
abgedruckte Antwort „Zu der Anklage (…) wolle sich die Grünen-Politikerin nicht äußern. Es handele sich
um eine ‚traumatische Sache‘“ sprechen dagegen.


FAZIT DES FRAUENBÜROS

Das Frauenbüro der Landeshauptstadt Saarbrücken ist Artikel 3, Absatz 2 des Grundgesetzes
verpflichtet und engagiert sich entsprechend dafür, die „tatsächliche Durchsetzung der
Gleichberechtigung von Frauen und Männern und die Beseitigung bestehender Nachteile“ zu
fördern.

In der Berichterstattung der Saarbrücker Zeitung sehen wir eine Benachteiligung von Frauen und
haben im Gespräch mit der Saarbrücker Zeitung frühzeitig darauf hingewiesen, dass eine wiederholte
Verbreitung des Narrativs aus Artikel 1 für Betroffene von sexualisierter Gewalt schädlich sein
könnte. Angesichts des erneuten Artikels können und wollen wir dazu nicht länger schweigen.

Die Saarbrücker Zeitung stärkt frauenfeindliche Mythen, die verursachen, dass viele
Vergewaltigungen und andere Sexualdelikte unentdeckt, unaufgeklärt und unverurteilt bleiben. Die
Unschuldsvermutung greift bei Strafprozessen wegen sexualisierter Gewalt überproportional häufig,
da die Taten üblicherweise so stattfinden, dass Aussage gegen Aussage steht. Dies lässt Betroffene
häufig von einer Strafanzeige absehen, wie die anekdotische, umfangreiche Dokumentation
#ichhabenichtangezeigtweil eindrucksvoll belegt.12

Die Saarbrücker Zeitung trägt dazu bei, dass die politische und öffentliche Repräsentanz von Frauen
auch weiter ungenügend sein wird, weil es den Eindruck macht, als könne der Status als „Person des
öffentlichen Lebens“ auch suggestive Verunglimpfungen, voyeuristische Zwangsoutings oder die
Verwendung widerrufener/gelöschter Statements rechtfertigen. Wenn immer weniger Frauen bereit
sind, sich öffentlich zu äußern, ist die öffentliche Meinungsbildung und die demokratische Debatte in
Gefahr – nicht zuletzt auch in den Redaktionen selbst.

Die Saarbrücker Zeitung beweist eine erstaunliche Lernresistenz, was den einmal eingeschlagenen
Weg der Berichterstattung angeht. Wenn man nicht bösartig von einer gezielten Kampagne zur
politischen Beschädigung der Bundestagskandidatin (oder der SPD?) ausgehen möchte, ist es doch
erstaunlich, dass bei der umfangreichen Recherche zu den letzten beiden Artikeln wohl keine Zeit
blieb, einen der zahlreichen Leitfäden für sensible und sachgerechte Berichterstattung über
geschlechtsspezifische Gewalt zu lesen und zu befolgen.
Oder die zahlreichen Kommentare der enttäuschten und alarmierten Leser*innen ernst zu nehmen.

Das Frauenbüro erklärt sich solidarisch mit allen Betroffenen sexualisierter Gewalt und betont an dieser Stelle der
Vollständigkeit halber, dass trotz der massiven Schwierigkeiten, die Frauen und Mädchen im Weg stehen, wenn sie eine Tat
anzeigen und aufarbeiten wollen, dieselben Dynamiken von Tabuisierung, Opfer-Täter-Umkehr, Verharmlosung usw. alle
anderen Geschlechter als Überlebende von sexualisierter Gewalt noch stärker belasten.

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1 Parteimitglieder in Deutschland: Version 2019. In: Arbeitshefte aus dem Otto-Stammer-Zentrum. Nr. 30, Freie
Universität Berlin 2019, S. 6: Tabelle 1: Entwicklung der Parteimitgliedschaften 1990 bis 2018 und S. 23: Tabelle
17: Anteil der Frauen an den Parteimitgliedern 1990 bis 2018
2web.archive.org/web/20190914171247/https://www.bundestag.de/abgeordnete/biografien/mdb_za
hlen_19/frauen_maenner-529508 (alle URLs wurden abgerufen am 26.07.2021)
3de.wikipedia.org/wiki/Frauen_in_der_Politik
4www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/3-atlas-zur-gleichstellung-von-frauen-und-maennern-indeutschland-
114010
5www.frauenrechte.de/images/downloads/hgewalt/Sexuelle-Gewalt-in-Deutschland.pdf
6www.bmfsfj.de/resource/blob/84316/10574a0dff2039e15a9d3dd6f9eb2dff/kurzfassung-gewaltfrauen-
data.pdf
7www.frauenrechte.de/images/downloads/hgewalt/Sexuelle-Gewalt-in-Deutschland.pdf
8www.presserat.de/files/presserat/dokumente/download/Pressekodex2017light_web.pdf
9 So nennt man Frauen, die Anzeige erstattet haben, in Gerichtsverfahren, da sie die Tat bezeugen
können/sollen, aber keine unbeteiligten Dritten (Zeuginnen/Zeugen) sind. „Anklägerin“ ist die
Staatsanwaltschaft.
10 Beispielhaft sei hier erwähnt: Alleinerziehenden und Geschiedenen eine gesellschaftliche Chance geben,
Schuldprinzip bei Scheidungen abschaffen, Zugang zu Bildung für Mädchen schaffen, Vereinbarkeit von Beruf
und Familie inkl. des Rechts auf Familienplanung fördern, Schwangere und Mütter schützen, Situation von
Prostituierten verbessern, Armut beenden.
11 „Rape Culture“, dt. Vergewaltigungskultur, bezeichnet die strukturellen und kulturellen Normen, die
Vergewaltigungen befördern, wie zB unterschiedliche Maßstäbe für „angemessene“ sexuelle Erfahren je nach
Geschlecht, „Stammtischwitze/Locker room talk“, Songtexte, in denen Grenzverletzungen normalisiert werden
uvm.
12 ichhabnichtangezeigt.wordpress.com